Lebendige Tradition

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Er baut sie gerne und er fährt sie gerne: Stachelweidlinge sind die Leidenschaft von Urs Kohler. Seit rund 20 Jahren stellt er die traditionellen Flachboote in seiner Zimmerei in Thayngen her. Sogar bis ins Kino haben es seine handgearbeiteten Schiffe geschafft.

Für Urs Kohler sind Stachelweidlinge seit jeher Teil ­seines Lebens. Schon als Jugendlicher war der heute 63-Jährige mit diesen für Schaffhausen so typischen Flachbooten auf dem Rhein unterwegs. Seit rund 20 Jahren baut er sie in seiner eigenen «Werft», wie er seine Zimmerei in Thayngen liebevoll nennt. Damit setzt er eine 500 Jahre alte Tradition fort. Waren sie ­urprünglich Last- und Fischerboote, dienen die Weidlinge heute dem Wassersport und sind vom Rhein bei Schaffhausen nicht mehr wegzudenken. Die Strömungsstärke und das flache Ufer sind ideal fürs Weidlingsfahren. Seinen ersten Stachelweidling baute der gelernte Zimmermann denn auch für sich selbst, um damit auf dem Rhein zu fahren. Bis heute ist er regelmässig mit seinem Weidling unterwegs, den er gemein­sam mit Freunden von den Altpfadfindern aus seinem Heimatort Neuhausen nutzt.

Weidlinge mit und ohne Motor

Spezialisiert ist Urs Kohler auf den Bau der klassischen Stachelweidlinge. Diese neun Meter langen Holzboote werden flussabwärts mit Ruder und Stachel und ent­gegen der Strömung nur mit dem Stachel den Fluss ­hinauf gestossen. Der Stachel ist ein je nach Körpergrösse des Bootsbesitzers 2,5 bis 3,2 Meter langer Holzstab, der am Ende mit einem Zinken bewehrt ist. ­Inzwischen gibt es auch immer mehr Motorweidlinge sowie Stachelweidlinge, die mit einem kleinen mobilen Motor ausgestattet sind, der vor allem flussaufwärts zum Einsatz kommt.
Mit dem Bau der Weidlinge beginnt Urs Kohler jedes Jahr gegen Ende März. Bereits ab Januar hat er zuvor das Holz, das von einer Sägerei in Wilchingen stammt, vorbereitet und druckimprägnieren lassen. So halten die Boote auch ganz ohne Lasur rund 20 Jahre. «Für das Wasser ist es viel besser, wenn man die Boote nicht noch zusätzlich lasiert», sagt er. «So kommen keine Schadstoffe in den Rhein.»

Millimetergenaue Arbeit

Ein Grossteil der Herstellung ist Handarbeit. Zwar kommen auch Kreissäge und Elektrobohrer zum ­Einsatz, die perfekte Form erhalten die einzelnen Holzplanken jedoch mit dem Hobel per Hand. «Das ist Millimeterarbeit», erklärt Kohler. 
Für den Bootsbau schneidet er zunächst das Holz zu, bevor er es montiert. Für den perfekten Weidling brauche man «einfach ein Gespür fürs Schiff», beschreibt er sein Erfolgsgeheimnis. Das Boot selbst wird aus ­relativ weichem Tannen- und Fichtenholz gebaut, der Stachel aus biegsamer Esche. Nicht jedes Holz sei flexibel genug für den Bootsbau. Eichenholz sei zum ­Beispiel viel zu starr und würde leicht brechen. Die Bretter vom Bootsrumpf werden geklammert und die Fugen, die einst mit Schilfblättern abgedichtet ­wurden, mit moderner Dichtungsmasse gefüllt. So entstehen jedes Jahr sieben bis neun Stachelweidlinge.

Langboot für 30 Personen

Kohlers Stachelweidlinge sind inzwischen so bekannt, dass sie es bis ins Kino geschafft haben. So ist Urs ­Kohler mit seinem selbst gebauten Boot als Fährmann im 2019 erschienenen Film «Zwingli» zu sehen. Der Filmdreh sei schon eine besondere Erfahrung gewesen, erzählt er.

Das Boot, auf das er besonders stolz ist, ist allerdings kein klassischer Weidling, sondern eine Spezialanfertigung. 2015 hat er ein Langschiff für den Zürcher Limmatclub gebaut. Es fasst bis zu 30 Personen und kam erstmals 2016 bei der historischen «Hirsebreifahrt» von Zürich nach Strassburg zum Einsatz. Die erste Hirsebreifahrt geht, so wie die Weidlinge, auf eine jahrhundertealte Tradition zurück. Sie fand 1456 statt. Damals reisten Zürcher mit einem Boot über Limmat und Rhein nach Strassburg, als Zeichen der Freundschaft zwischen den beiden Reichstädten des rheinischen Städtebunds. Diese Tradition wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebt. Seitdem machen sich die Zürcher alle zehn Jahre per Boot auf den Weg nach Strassburg. Heute mit einem Boot von Urs Kohler.

Inken De Wit

Stachelweidlinge und Weidlinge

  • Begriff «Weidling» seit dem 14. Jahrhundert überliefert
  • Schmales, gut neun Meter langes Flachboot mit Platz für bis zu neun Personen
    
  • Material: traditionell aus Massivholz gefertigt, heute gibt es auch Ausführungen aus Sperrholz, Kunststoff oder Aluminium
    
  • Steuerung: via Stachel oder Treideln vom Ufer aus
    
  • Zubehör: Ruder, Sitzbretter, Seil, Kette, Anker sowie traditionell eine «Sasse», ein Wasserschöpfer

Kohler Holzbau